Regionalversammlung 29.03.2023: Herausforderungen der Transformation

Sie ist eine fundamentale Veränderung wirtschaftlicher, politischer und sozialer Strukturen. Und am Ende eines Transformationsprozesses schaut es eben ganz anders aus als vorher: Da ist aus der Raupe hoffentlich ein Schmetterling geworden.

 

Rede Prof. Dr. André Reichel

Sehr geehrter Herr Vorsitzender,
sehr geehrter Herr Regionaldirektor,
sehr geehrte Mitglieder der Regionalversammlung,

Transformation – ein großes Schlagwort, aber inzwischen ist Transformation Realität geworden. Ich selbst befasse mich seit fast 15 Jahren beruflich als Nachhaltigkeitsforscher mit diesem Thema, seit 2011 ist es mit dem Hauptgutachten des WBGU (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen) in der öffentlichen Debatte. Das war aber über lange Zeit eine sehr akademische Debatte, wo wir uns überlegt haben, wie könnte Transformation funktionieren, wenn sie dann mal passiert.

In der Zwischenzeit ist es eben keine akademische Debatte mehr, Internationalisierung geschieht. Wir sind mitten in der Transformation unserer Wirtschaftsregion. Was mir wichtig ist, ist, dass wir uns wirklich auch nochmals vergegenwärtigen, dass Transformation nicht einfach nur ein Wandel ist. Wandel ist ein Prozess, wo wir die Parameter kennen und die Randbedingungen relativ klar sind. In unseren Organisationen, in denen wir arbeiten, kennen wir Change-Management-Prozesse. Aber genau das meint Transformation eben gerade nicht.

Transformation bedeutet eine fundamentale Veränderung wirtschaftlicher, politischer und sozialer Strukturen. Am Ende eines Transformationsprozesses schaut es eben ganz anders aus als vorher. Da ist aus der Raupe hoffentlich ein Schmetterling geworden. Und ich glaube, so müssen wir Transformation vor Ort auch verstehen und erkennen. Es wird alles ganz anders werden. Und damit versuchen wir uns hier in der Region, im Land und im Bund, aber auch auf der europäischen Ebene an einer ambitionierten Unmöglichkeit. Wir versuchen nämlich das Unplanbare zu planen. Aber wir müssen doch auch einsehen, dass wir hier eine so dramatische Veränderung vor uns haben, die eigentlich wie eine zweite Industrialisierung unseres Landes darstellt.

Ich würde bei allen wichtigen Zielvorgaben hier in dieser Regionalversammlung darüber hinaus auch noch ein bisschen Demut zeigen, weil wir eben nicht alle Eventualitäten vorab erkennen und berücksichtigen können. Wir können nur gut vorbereitet sein und schnell Entscheidung treffen. Damit haben wir zwar manchmal in Deutschland so unsere Probleme, aber ich bin zuversichtlich: wir schaffen das!

Zur Transformation selbst: Ich sehe hier drei zentrale Herausforderungen, auch in dieser Region.

(1) Das ist zum einen die menschengemachte Klimakatastrophe, ich möchte nicht mehr von Klimawandel sprechen. Es ist eine Katastrophe, die sich vor unseren Augen abspielt und die erforderlich macht, dass wir in der Tat die Dekarbonisierung in allen Lebensbereichen, in allen Wirtschaftsbereichen umsetzen. Um das 1,5-Grad-Ziel von Paris zu halten, reichen die minus 55% an CO2-Emissionen bis 2030, welche die EU als Ziel ausgerufen hat, eigentlich nicht. Es sollten eher in Richtung minus 80% sein. Das ist eine Herausforderung für unsere Industrie von noch nicht dagewesenen Ausmaßen.

(2) Die zweite große Herausforderung sind Demografie und Migration. Wir sind ein Zuwanderungsland. Das haben wir lange nicht sein wollen, jetzt sind wir es und wir werden es in Zukunft noch viel mehr sein. Und es werden auch Menschen kommen, darauf müssen wir uns insgesamt einstellen. Denn das 21. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Migration, gerade die aufstrebende Mittelschicht im globalen Süden macht sich auf den Weg nach Norden. Für uns in Deutschland, in der Region Stuttgart, mit unserer überalternden Gesellschaft kann das eine Riesenchance sein: neue Menschen, neue Ideen, neue Tatkraft, neue Sichtweisen.

(3) Der dritte Punkt, auf den ich eingehe, ist das, was ich als neue Globalisierung bezeichne. Wir leben in einer unübersichtlich gewordenen Welt. Wir erleben eine Zeit großer Konflikte, auch territorialer Auseinandersetzungen und eher weniger Integration was Politik und Handel angeht. Das ist gerade für eine exportorientierte Region wie unsere eine Riesenherausforderung, der wir uns stellen müssen. Wo ist es noch sicher für Investitionen? Was sind zuverlässiger Partner, zuverlässige Märkte?

Zur Klimakatastrophe: Im Moment haben wir einen globalen Temperaturanstieg von im Schnitt 1,1 Grad zur vorindustriellen Zeit. 1,1 Grad heißt, dass wir in Mitteleuropa 5 Jahre Dürren haben, dass wir große Überschwemmung letztes Jahr hatten, dass weltweit die Anzahl von Waldbränden und Dürreperioden zunimmt. Wir versuchen alles, die 1,5 Grad von Paris einzuhalten. Aber noch einmal: wir erleben jetzt den Klimawandel bei plus 1,1 Grad. 1,5 Grad ist schon noch mal deutlich mehr und so ehrlich müssen wir auch sein: Im Moment verfehlen wir die 1,5 Grad mit den Maßnahmen, die beschlossen sind. Wir laufen auf eine plus 2,1 bis 2,8 Grad hin. Noch ein Hinweis: Diese zehntel Grade die ich anspreche, sind nicht-lineare Zusammenhänge, das heißt, es wird überproportional schlechter.

Deshalb müssen wir uns anstrengen, deswegen ist auch eine Radikalität notwendig, was das Thema Dekarbonisierung angeht. Radikalität ist gefordert im Denken, neuen Ideen, neue Wege zu gehen. Aber es ist auch Pragmatismus gefordert im Handeln ausgehend von dem, was schon da ist. Ich glaube, hier ist es auch wichtig, dass wir der Industrie, die hier ist, neue Wege aufzeigen, sie bestärken, neue Wege beschreiten und dass wir uns auch bemühen, noch viel stärker bei der Industrie anzusiedeln. Im Bereich IT und Software, in der Kreativitätsbranche – als „heimliche“ zweite Leitindustrie der Region – und im Gesundheitswesen. Eine Branche, die noch in der Region zu schwach ist, ich glaube hier haben wir noch viel Potenzial.

Das bedeutet natürlich auch, dass wir beim Thema Fläche etwas machen müssen und das ist schon verschiedentlich angesprochen worden. Was aber auch klar ist: Einfach nur Vorhalteflächen auszuweisen, das wird im 21. Jahrhundert nicht mehr gehen, das haben uns auch diverse Bürgerentscheide gezeigt. Die Menschen in der Region wollen schon wissen, was da kommt. Dann sind sie auch bereit, Ja zu sagen, Beispiel Cellcentric. Aber einfach nur 20, 30 Hektar vorzuhalten und dann mal zu schauen, was passiert, das geht nicht mehr.

Ich glaube, hier brauchen wir kreative Lösungen, die ja auch von der Industrie entwickelt werden. Das wird schwierig, aber da sind wir gut aufgestellt mit den Menschen in der Region. Für den Verband sehe ich bei diesem Thema Klima wichtige Entscheidungen vor uns, wir könnten uns selbst auch ein klares Klima-Ziel setzen. Und zwar nicht nur für die Verbandsverwaltung, die kann relativ schnell ihren Klima-Fußabdruck reduzieren, sie macht das ja schon. Es aber ist unsere Pflicht als politische Region mit ihren 179 Kommunen hier ambitionierter zu sein als die EU und die vollständige Klimaneutralität bis 2040 anstreben. Als Zwischenschritt könnte ein minus 65% bis 2030 (anstelle minus 55%) stehen.

Ich glaube auch, dass wir nach 2040 anstreben müssen, klimapositiv zu werden. Wir müssen anfangen, zu überlegen, wie wir eine klimaresiliente Region werden, in der mehr CO2 „versenkt“ als produziert wird. Da spielen Grünflächen, Biotopverbünde und Investitionen in Biodiversität eine Rolle. Gerade hier gibt es bereits regionale Ansätze, die z.B. in der IBA verwirklicht werden. Die IBA macht hier ganz spannende Dinge bei der alten Neckarspinnerei in Wendlingen. Da werden nicht nur alte Industriebrachen aufgewertet, wo neues Wohnen und Arbeiten bald einziehen wird, da werden gleichzeitig ökologische Brachflächen aufgewertet und in ihrer Biokapazität erweitert. Und ich glaube, dass wir solche Ansätze nach 2027, dem Jahr der IBA, in die Breite der Region tragen müssen. Weil uns diese Ziele alles abverlangen werden, haben wir heute auch keine Zeit für parteipolitische Spielchen, weder im Bund noch in der Region, auch wenn die FDP da anderer Meinung ist. Deren Änderungsantrag zum Beschlussvorschlag tragen wir Grünen nicht mit.

Der zweite große Transformationstreiber, den wir haben, sind Demografie und Migration. Da haben wir eine doppelte Entwicklung: die Überalterung der Gesellschaft in Europa mit einer zunehmenden Verknappung von Arbeitskräften, die sich noch weiter verschärfen wird. Und manche Dinge kann man halt nicht automatisieren. Wenn ich auch davon ausgehe, dass in den nächsten 15 Jahren unsere S-Bahnen fahrerlos fahren werden, so kann ich mir sehr schwer vorstellen, dass meine neue Badezimmerarmatur sich automatisch montiert.

Das ist die eine Seite der Medaille, wir brauchen, vorsichtig geschätzt, 400 000 Menschen, die Netto zuwandern, um den Bevölkerungsstand und damit auch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu erhalten. Auf der anderen Seite haben wir immer noch einen demografischen Überschuss im globalen Süden und da wird sich vor allem die aufstrebende Mittelschicht auf den Weg machen, sie macht sich schon auf den Weg, Da ist eine Sache, die wir manchmal unterschätzen. Es sind eben nicht nur durch Kriege und Krisen, die Menschen zu uns bringen, sondern vielmehr weil es ihnen hier besser geht und sich gerade die gut Ausgebildeten nach neuen Lebenschancen umschauen. Diese Menschen werden zu uns kommen und sie müssen auch zu uns kommen.

Aber es ist eine große Herausforderung, diese Menschen zu integrieren. Natürlich über den Arbeitsmarkt, aber auch über zivilgesellschaftliche Strukturen. Und da haben wir in dieser Region eine aktive Bürger*innengesellschaft, die sich engagiert, schon seit vielen Jahren, gerade was das Thema Integration angeht. Aber hier sehe ich auch die Notwendigkeit, dass wir neue Strukturen schaffen in der Region schaffen. Die WRS selber ist hier natürlich bereits aktiv, aber wir sollten weiter gehen und gezielt (Aus-)Bildungspartnerschaften fördern zwischen Unternehmen aus der Region und Menschen/Institutionen im globalen Süden. Das wäre eine große Aufgabe, der wir uns in Zukunft stellen müssen. Auch für den Verband sollten wir uns überlegen, wie wir aus der Willkommenskultur im WellcomeCenter eine größere Willkommensstruktur schaffen, die in den nächsten 20, 30 Jahren in der Lage ist, die Menschen zu integrieren und den zivilgesellschaftlichen Bemühungen, die es hier gibt, eine hervorgehobene Stellung und entsprechende Unterstützung zu geben.

Der letzte Punkt ist die neue Globalisierung. Die Welt ist anders geworden. Als ich jung war, fiel die Mauer, ein Jahr später gab es die DDR nicht mehr, es ist eine ganz neue Welt entstanden. Francis Fukuyama hat damals das Ende der Geschichte ausgerufen, aber spätestens seit dem Februar letzten Jahres ist das Ende der Geschichte vorbei. Wir gehen zurück in die Geschichte, die aber ganz anders ist als die letzten 30 Jahre. Es geht eben nicht mehr um mehr Globalisierung und mehr Integration. Die Lösung aller Probleme durch Handelsabkommen, durch wirtschaftliche Vorteile für alle, das ist die Vergangenheit. Da entsteht eine neue Zeit, in der sich auch unsere regionale Wirtschaft umorientieren muss, eben nicht mehr nach China, aber in Richtung Südasien, Südostasien, Südamerika, Afrika. Hier gibt es im Land bereits Initiativen, die wir natürlich unterstützen. Aber auch wir als VRS und als WRS sollten mutig vorangehen.

Zum Abschluss: Ich glaube, wir sind uns alle einig, dass wir das Land hier in seinen Bemühungen bei der EU unterstützen. Aber ich denke auch, dass wir als Region den Transformationsprozess so wie er ist weiter aktiv gestalten und auch mutig sind, uns neue Strukturen zu überlegen und auch uns selber verpflichtende Vorgaben zu machen. Dann wird Transformation am Ende gelingen.

Vielen Dank